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Ilka Meffert

„Ihr müsst draußen bleiben!“ – Doktorspiele und ihre Grenzen

In den zurückliegenden Jahrzehnten hat sich die Haltung Erwachsener zur kindlichen Entwicklung mit Blick auf die Sexualität grundlegend verändert. Die meisten Eltern und Erzieher akzeptieren heute, dass Kinder von Anfang an auch sexuelle Wesen sind. So wissen und akzeptieren wir auch, dass die kindliche Neugier und Entdeckerfreude das Ausprobieren und Kennenlernen des Körpers einschließt, und zwar des gesamten Körpers mit allen seinen Teilen – nicht zuletzt, sondern vor allem den im Allgemeinen meist verborgenen, schon früh tabuisierten. Kindliche Neugier macht also auch vor Sexualität nicht Halt.

Was sind „Doktorspiele“?

Altersgemäße Erfahrungen mit der eigenen Sexualität sind als Bestandteil einer ganzheitlichen Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit wichtig und wertvoll.

Schon im Alter von zwei bis drei Jahren entdecken Kinder den „kleinen Unterschied“, das, was Junge und Mädchen, was Frau und Mann voneinander unterscheidet. Dazu erkunden sie ihre eigenen  Geschlechtsorgane und die von anderen Kindern, um zu vergleichen, um zu sehen: Wie sieht das bei mir aus? Bin ich okay so? Wie sieht das bei anderen – Jungen und Mädchen – aus?

Ab etwa vier Jahren und bis ins frühe Grundschulalter hinein werden im Rahmen von Rollenspielen, in denen Erwachsenenverhalten ausprobiert und nachgeahmt wird, auch die sog. „Doktorspiele“ immer wieder gern gespielt. So probieren Kinder z.B. aus, wie sich Zungenküsse anfühlen, oder sie spielen „Mutter-Vater-Kind“ einschließlich Heirats- oder Beischlafszenen. Auch Arztbesuche einschl. gründlicher körperlicher Untersuchungen werden gern gespielt.

Kinder erobern ihre Welt durch Beobachtung und Nachahmung. Das, was sie bei den Großen sehen oder erleben, wird nachgeahmt; Erwachsenenrollen werden spielerisch erprobt. Schließlich will man auch mal groß werden!

Zur Einordnung und Abgrenzung

„Doktorspiele“ finden unter Kindern gleichen Alters bzw. gleichen Entwicklungsstandes statt. Die beteiligten Kinder sind gleichberechtigte Spielpartner mit einem gegenseitigen Interesse am Spiel.

Keiner ordnet sich dem anderen unter; es gibt kein Drängen und keinen Zwang.  

Wie reagiere ich richtig, wenn ich Kinder bei „Doktorspielen“ beobachte?

Wenn wir davon ausgehen, dass „Doktorspiele“ normal und grundsätzlich nicht schädlich sind, können wir wohl auch gelassener damit umgehen. Heute wissen wir, dass es dabei um ein Forschen und Erfahren in unbefangener Weise geht. Dabei haben Erwachsene nichts zu suchen, weil sie aufgrund ihrer Erwachsenen-Erfahrungen mit Sexualität eben nicht unbefangen dabei sein können.

Nun stellen Sie sich einmal folgende Situation vor (oder kommt Ihnen diese vielleicht sogar bekannt vor?): Ihr Kind – fünf Jahre alt – spielt mit dem sechsjährigen Nachbarskind in Ihrer Wohnung. Sie sitzen entspannt mit Frau Nachbarin und einer Tasse Kaffee in der Küche. Sie hören die Kinder beim Spielen lachen, quieken und fröhlich lärmen. Ab und zu lassen sich die beiden auch mal sehen, um Ihnen was zu zeigen, zu erzählen oder was zu trinken. Nach einer Weile fällt Ihnen und Frau Nachbarin auf, dass plötzlich eine himmlische Ruhe eingetreten ist. Sie wollen sich schon freuen über die braven Kinder, aber irgendwie ist die Ruhe auch „verdächtig“. Und jetzt ist auch die Kinderzimmertür zu. Sie überkommt ein mulmiges Gefühl – was machen die Kinder denn jetzt? Vorsichtshalber klopfen Sie erstmal, bevor Sie vorsichtig den Kopf ins Kinderzimmer stecken. Da ertönt auch schon ein Ruf: „Jetzt sollt ihr nicht reinkommen!“ Sie sehen, dass Ihr Sohn auf dem Bett liegt, die Hosen sind heruntergezogen, Nachbarstochter kniet daneben auf dem Boden… – „Was macht ihr?“ fragen Sie etwas verunsichert. – „Wir spielen Doktor! Geht weg!“  Sie und Ihre Nachbarin schauen sich an, irgendwas zwischen Entsetzen und Ratlosigkeit im Blick: „Und nun?“ – Sollen Sie einfach gehen? Eingreifen? Verbieten? Belehren? … Sie treten den Rückzug an, weil Ihr Verstand Ihnen sagt: Das ist normal, dass sie sich gegenseitig untersuchen. Aber ein mulmiges Gefühl bleibt. Frau Nachbarin ruft noch schnell: „Aber nichts in die Scheide oder in den Po stecken!“ und die Tür ist wieder zu.

Regeln für Doktorspiele

Nun wollen wir als moderne, aufgeklärte und liberale Eltern bei der Sexualerziehung natürlich nichts falsch machen. Schließlich sollen unsere Kinder ja nicht verklemmt aufwachsen. Lassen wir sie also ihre eigenen Erfahrungen machen?!

Zugleich müssen wir unsere Kinder aber auch schützen, wenn sie in unserer Erwachsenenwelt mit einer zunehmenden Sexualisierung der Öffentlichkeit – insbesondere durch die Medien – konfrontiert werden. Nicht alles, was sie möglicherweise sehen oder mitbekommen, ist ungefährlich oder zum Nachspielen geeignet. Darum bleiben Sie offen, fragen Sie nach, beachten Sie Ihre eigenen Grenzen, wenn Ihre Kinder Sie plötzlich „aus der Kalten“ mit sexuellen Themen konfrontieren.

Helfen Sie ihren Kindern dabei, die eigenen Grenzen wahrzunehmen, zu vertreten, aber auch die Grenzen anderer Menschen zu respektieren.

Zum Thema „Doktorspiele“ sollten wir unseren Kindern folgende Regeln vermitteln:

  • Jedes Kind entscheidet selbst, ob und mit wem es Doktor spielen will.
  • Streicheln und Untersuchen ist nur solange erlaubt, wie beide Kinder das auch wollen. Wenn einer nicht mehr mitspielen mag, ist Schluss.
  • Es darf nicht weh tun / weh getan werden.
  • Es werden keine Gegenstände in Körperöffnungen (in Scheide, Po, Penis, Mund, Nase, Ohren) gesteckt.
  • Ältere Kinder, Jugendliche und Erwachsene haben bei „Doktorspielen“ nichts zu suchen.

Liebe Eltern, auch wenn wir uns beim Anblick der spielenden Kinder peinlich berührt fühlen:  Doktorspiele unter Kindern helfen dabei, ein gutes Bewusstsein für den eigenen Körper zu erhalten, eine respektvolle Haltung vor dem Körper anderer zu entwickeln und tragen damit auch zu einer gesunden Sexualentwicklung bei. Und seien Sie getröstet: es geht auch wieder vorbei. Bald werden andere Dinge wieder interessanter, warten auf Ihre Kinder neue große und spannende Entwicklungsaufgaben, die ihre ganze Aufmerksamkeit erfordern.

Uta Troike, Psychologin im Kinderarche Sachsen e.V.

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