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Ilka Meffert

Verlieren wir unsere Kinder an ein Computerspiel-Universum?

Vielleicht kennen Sie das: Ihr Kind kommt nach Hause, erst mal fällt der Rucksack (Ranzen oder Schultaschen gab es früher mal…) zu Boden und dann teilen typische Geräusche mit, dass sein Computer jetzt eine Weile Schwerstarbeit zu leisten hat. Auf dem Bildschirm erscheint fotorealistisch eine amerikanische Stadt, in der ein Mann sich wechselnde Autos organisieren muss, um seine Missionen erfüllen zu können. Irgendwie hat das Ganze was mit Gangstern zu tun, aber vor allem mit wilden Autofahrten jenseits aller Verkehrsregeln und manchmal wird auch geschossen. Na ja – wenigstens nicht andauernd wie bei einem Ego-Shooter… Und Ihr Kind streunt nicht unkontrolliert draußen rum, es sitzt ja an seinem Schreibtisch, Sie wissen, wo es sich aufhält – alles gut? Und wie ist es mit den Hausaufgaben? Keine auf – auch im Hausaufgabenheft steht nichts. Seltsam – früher war das irgendwie anders…

Aber nach der ersten Hälfte des Schuljahres teilt die Klassenlehrerin Ihnen mit, dass zum Schuljahresende eine Wiederholung der Klassenstufe droht. Seltsamerweise kümmert das Ihr Kind nicht sehr. Es will sowieso Profispieler in E-Sports oder YouTuber werden und damit dann viel Geld verdienen…

Verlieren wir unsere Kinder an ein Computerspieluniversum? An eine Welt, die uns immer noch fremd ist? Was fasziniert sie da bloß so sehr? Für eine Antwort auf diese Frage müssen wir uns ein wenig mit Neurophysiologie beschäftigen.

Damit wir uns irgendeiner beliebigen Sache zuwenden und überhaupt tätig werden, brauchen wir ein Motiv, einen „Beweg-Grund“. Wir müssen davon einen Vorteil haben oder einen Nachteil vermeiden können. Wenn wir Hunger haben, kann das ein Motiv für uns sein, etwas Wohlschmeckendes zu kochen und dann auch zu essen. Denn mit diesem Verhalten können wir den Hunger beseitigen und wir fühlen uns satt und zufrieden – bis zum nächsten Mal. Hunger ist also ein Ausdruck dafür, dass unser Bedürfnis nach Nahrung gerade nicht befriedigt wird und dass wir uns auf die Suche nach Objekten (Nahrungsmittel) machen müssen, die zusammen mit passenden Tätigkeiten (Einkaufen, Kochen usw.) geeignet sind, das zu ändern. Wenn das Bedürfnis dann befriedigt ist, wird das in unserem Gehirn mit einem speziellen Überträgerstoff signalisiert: Dopamin.

Der wirkt auf sein Belohnungszentrum. Wir erleben mehr oder weniger starke Glücksgefühle, wenn unsere Bedürfnisse befriedigt werden: Das Bedürfnis, das Lieblingsgericht zu essen oder eine Droge zu uns zu nehmen, das Bedürfnis, sexuell aktiv zu sein, das Bedürfnis, optimal integriert zu einer Gruppe von Menschen zu gehören, oder das Bedürfnis, die Umwelt unter Kontrolle zu haben, also sicher zu sein.

All diese Sachverhalte haben eine Gemeinsamkeit: Die Information, dass nun unser Bedürfnis befriedigt ist, erhält das Belohnungszentrum über eine Rückmeldung, entweder aus unserem Körper oder aus unserer Umwelt. Eine solche Rückmeldung ist besonders wirksam, wenn sie sofort auf die ausgeführte Handlung folgt und wenn sie den Inhalt „besser als erwartet“ hat. Nun müssen wir uns nur noch die Frage stellen, wie häufig und in welcher Qualität ein Kind diese Rückmeldung in der Schule bekommt…

Im Computerspiel ist das ganz anders. Zu Beginn werden die grundlegenden Merkmale des Spiels (relevante Objekte, Missionen, Werkzeuge, Handlungsabläufe usw.) vermittelt und geübt. Der Schwierigkeitsgrad ist meist so eingestellt, dass die Anforderungen zu Beginn mit großer Gewissheit bewältigt werden. Dann steigen sie langsam an. Das Wichtigste aber: Hier folgt die Rückmeldung, ob etwas gelungen ist, häufig und sofort – optimale Voraussetzungen dafür, dass das Belohnungszentrum mit Dopamin geflutet wird. Und das wollen wir wieder haben, unbedingt… So kann Abhängigkeit entstehen.

Muss aber nicht. Einmal neigen Menschen in recht unterschiedlichem Maße dazu, Abhängigkeiten von Objekten, Personen oder Handlungen zu entwickeln. Zum zweiten gibt es glücklicherweise auch in der analogen Welt vielfältige Möglichkeiten, unsere Bedürfnisse zu befriedigen, z.B. bei sportlichen Aktivitäten, beim Knobeln an einer Lösung für die Physik-Hausaufgabe, im Zusammensein mit Freunden. Erstellen Sie doch mal eine Liste und tragen Sie dort ein, was Sie oder Ihr Kind gern tun, wenn der Computer aus ist.

Zum dritten können Menschen auf der Grundlage ihrer angeborenen und bisher erworbenen Bedürfnisse neue Bedürfnisse lernen. Vielleicht erlebt Ihr Kind, dass irgendeine Aktivität im Freien, das Zusammensein mit Freunden, das Sich-Hineinvertiefen in ein Unterrichtsthema einen höheren Belohnungswert hat, als virtuell Leute aus dem Auto zu zerren und andere Verkehrsteilnehmer zu rammen. Zeigen Sie Geduld und Ausdauer beim Anbieten und Unterstützen solcher Aktivitäten!

Und zum vierten ist der Computer ein Werkzeug, das in vielfältiger Weise der menschlichen Erkenntnis dienen kann. Darin gleicht er anderen Medien, die Positives und Negatives transportieren können. Welche Möglichkeiten der Informationssuche eröffnen sich mit seiner Hilfe, wie sehr wird mancher Kontakt zu anderen Menschen erleichtert und – ja, es gibt auch eine Menge Computerprogramme, die Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten vermitteln. Das finden wir einmal in Lernprogrammen, mit denen Kinder und Jugendliche Inhalte bestimmter Unterrichtsfächer in der Freiarbeit oder zu Hause üben können. Manche von ihnen sind sogar geeignet, Kindern mit einer Leserechtschreibstörung oder einer Rechenschwäche zu helfen, ihr Handicap zu überwinden. Aber auch freizeitorientierte Computerspiele führen zu Lerneffekten: Gesellschaftssimulationen wie SimCity erfordern die gleichzeitige Berücksichtigung wechselseitiger Abhängigkeiten, Minecraft trainiert u.a. räumliches Vorstellen, Phantasie und die sinnvolle Nutzung von Ressourcen, und selbst Autorennen erfordern Konzentration und schulen die Auge-Hand-Koordination.

Ein wahrscheinlich noch ziemlich unterschätztes Potenzial besitzen Wimmelbild-Spiele, die für wenig Geld erhältlich sind. Es ist freilich nicht ganz einfach, im Elektroniksupermarkt unter einer Vielzahl von Gruselschockern und esoterischem Klimbim diejenigen Spiele zu finden, bei denen Kinder und Jugendliche lernen können, in komplexen Bildangeboten Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden, Teile davon zu speichern und dann neu zu kombinieren. Gelegentlich finden sich geeignete Angebote auf DVDs in einer populären Computerzeitschrift. Aber die Suche lohnt sich: Gute Wimmelbild-Spiele sind ein exzellentes Wahrnehmungs- und Konzentrationstraining.

Vor allen Dingen aber machen sie Spaß, die Dopamin-Rezeptoren in den entsprechenden Synapsen bekommen Futter und ganz nebenbei verbessern sich die Fähigkeiten Ihres Kindes, Details differenziert wahrzunehmen, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden, relevante Dinge im Gedächtnis zu behalten und dann daraus die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Und vielleicht hilft ihm das sogar in der Schule…

Bernd Friedrich, Diplom-Psychologe im Kinder- und Jugendheim Crimmitschau

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