Vom Glück der Berührung
„…aber Berührungen haben für Lebewesen einen Stellenwert wie die Luft zum Atmen.“[1]
Kuscheln, Schmusen, Streicheln, Zärtlich sein – wir alle haben das Bedürfnis, berührt zu werden. Es scheint, als würde unsere Fähigkeit, uns zu binden, Bindungen zuzulassen und Glück zu empfinden, auch davon abhängen, wie liebevoll und zuverlässig körperliche Berührungen möglich sind.
Insbesondere trifft das auf das Werden unserer Kinder zu. Schon im Mutterleib sind Tastsinn, Berührung und Bewegung überlebensnotwendige Entwicklungsschritte, die z.B. ermöglichen, dass ein Säugling die Haut der Mutterbrust erspüren kann und seinen Kopf in diese Richtung dreht. Dafür hat es als Fötus im Mutterleib schon mal geübt, wie sich der Daumen im Mund anfühlt, um dann genau das zu tun, was sein Überleben sichert – Saugen. Neun Monate hat sich der kleine Erdenbürger darauf vorbereitet[2]. Ein erstaunlicher und komplexer Entwicklungsvorgang, bei dem der Tastsinn als einer der ersten entsteht und dazu beiträgt, das Überleben zu sichern. Embryonen können schon in der 12. Woche „fast an ihrer gesamten Körperoberfläche Berührungsreize wahrnehmen.“[3]
Aber es geht nicht nur um das Überleben durch Nahrungsaufnahme, sondern gleichermaßen um Bindung, sich verbunden fühlen. Um die Sicherheit, verlässlich wahrgenommen und versorgt zu sein. In einem schrecklichen Experiment hat schon Friedrich II. (1194-1250), ein vielseitig interessierter Monarch, wissen wollen, was mit Babys passiert, die zwar von Ammen gestillt und versorgt, aber durch keinerlei Kontakt und Ansprache angeregt werden. Sein Interesse galt der Sprachentwicklung. Alle Babys fanden den Tod.
Das heißt, dass zu den Grundbedürfnissen wie Essen, Schlafen oder ein Dach über dem Kopf zwingend die Befriedigung des Bedürfnisses nach Berührung und Körperkontakt in einem positiven zugewandten Sinn gehört. Aber warum ist das so? Was passiert, wenn ein Vater liebevoll seinen Sohn umarmt, die Eltern sich umarmen oder eine Mutter den Bauch ihres kleinen Nackedeis kitzelt? Man könnte dies auf ganz einfache biochemische Prozesse reduzieren, aber auch die sind keineswegs von körperlichem Empfinden wie Wohlbehagen, sich spüren können, Sicherheit und dem Gefühl von Bindung trennbar.
Wird ein Mensch liebevoll berührt und sich ihm in dieser Berührung zugewandt, dann läuft unser Hormonhaushalt auf Hochtouren und schüttet die Liebes- und Bindungshormone Dopamin und Oxytozin aus. Letzteres bewirkt eine Vielzahl wunderschöner Reaktionen wie z.B. sich gebunden zu fühlen, entspannt und nicht ängstlich zu sein, es senkt den Blutdruck und regt das Nervenwachstum an. Verliebte, könnte man sagen, leben in einem Oxytozin-Rausch und strahlen vor Glück und Verbundenheit. Und das tun unsere kleinen, uns anvertrauten Nachkommen auch. Es ist für sie lebensnotwendig, gesehen und berührt zu werden, um sich sicher und gebunden zu fühlen und von dieser stabilen Basis aus die Welt zu erkunden.
Das Glück, berührt zu werden, ist das Glück, in körperlicher und geistiger Hinsicht wachsen zu dürfen, Bindung zu erfahren. Und das eben nicht erst, wenn sie das Licht der Welt erblicken, sondern schon in der Geborgenheit des mütterlichen Bauches. Den Bauch zu streicheln, die kleinen Stöße und Rempeleien des ungeborenen Kindes zu beantworten durch sanftes Liebkosen, sind wichtige Entwicklungsimpulse, deren Bedeutung durch die Forschung fundiert in unser Bewusstsein gerückt ist und vielerlei „Bauchgefühl“ im elterlichen Handeln bestätigt. Auch die kleinen frischgebackenen Erdenbürger sollten sofort die Chance haben, sich an ihre Mutter zu schmiegen – vor dem Wiegen und Waschen. „Wird das Baby hingegen zuerst untersucht, gebadet oder gewogen, wird dieses Geschenk der hormonellen Bindungsunterstützung vergeudet.“[4]
Dürfen unsere Kinder liebevolle und achtsame Berührungen erleben, so ebnen wir für sie eine tragfähige und lebenslang wirksame Bindungserfahrung. Feinfühliges Berühren bedeutet auch, Kinder in ihren Bedürfnissen wahrzunehmen, Berührung nicht aufzudrängen und Grenzen zu achten. Es ist nicht möglich, Kinder mit dieser Zuwendung zu verhätscheln, zu verwöhnen oder gar zu verziehen. Im Gegenteil, Kinder können so ein gesundes Ich-Gefühl entwickeln und die Sicherheit, geschützt und geborgen ihre Umwelt zu erforschen. Ein Baby schreien zu lassen, ein Kleinkind nicht zu schmusen oder das Abgrenzungsbedürfnis des Teenagers zu missachten, kann dazu beitragen, dass die Entwicklung von Selbstwert und Selbstwirksamkeitserleben einem Erleben von Ohnmacht weicht.
Insgesamt hat aus meiner Sicht das Gedeihen der Kinder, die positive und feinfühlige Berührungserfahrungen machen dürfen, auch eine hohe Bedeutung für unsere Zukunft. Menschen, die wissen, wie sich Bindung anfühlt, können achtsam mit anderen Menschen umgehen, deren Bedürfnisse und Grenzen wahrnehmen und selbstsicher interagieren. Es lohnt sich also für uns alle, berührt zu werden und zu berühren.
In diesem Sinne – kuscheln und berühren Sie: für Ihre Kinder, für sich und für uns alle!
Angelika Welke, Einrichtungsleiterin Integrative Familienbegleitung
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[1] Martin Grunwald in: Birgit Herden: „Fass mich an“ Zeit online, Zeit Ausgabe Nr. 52, 2015; abgerufen: www.zeit.de/2015/52/beruehrung-koerperkontakt-gesundheit-massage; 24.06.2018
[2] Susanne Mierau: „Bindung durch Berührung“, Vortrag 11.10.14, Attachment Parenting Kongress Hamburg, 2014, abgerufen: https://geborgen-wachsen.de/2014/10/17/bindung-durch-beruehrung-mein-vortrag-auf-dem-attachment-parenting-kongress/; 24.06.2018
[3] ebenda
[4] ebenda