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„Und mach Dir einen Knoten ins Taschentuch!“

Teil 1: Das Arbeitsgedächtnis

Diesen Satz werden viele Menschen heute wohl nicht mehr kennen: Welche Sinn sollte es auch haben, in ein Papiertaschentuch einen Knoten zu machen? Als Kind habe ich ihn allerdings oft gehört – weil ich viel vergessen habe und weil es in den 60er Jahren noch Stofftaschentücher gab. Aber war das nicht schon damals nur so eine Redewendung? Und falls nicht: Kann dieser Satz heute noch irgendeine Bedeutung haben?

Ich bin in den letzten Jahren wieder auf dieses Thema gekommen, weil bei der Diskussion über Verhaltensweisen und Probleme von Kindern mit einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom das Vergessen immer wieder einmal eine Rolle spielte. Allerdings oft keine eindeutige. Manche Dinge merken sich Kinder mit ADS/ADHS nämlich ganz gut, andere höchst selten. „Wenn er will, dann denkt er auch dran“ oder „Sie vergisst das, was für sie mit Arbeit verbunden ist“ hörte ich dann manchmal. Aber ist das wirklich so?

Wenn wir diese Frage beantworten wollen, müssen wir darüber nachdenken, was „vergessen“ eigentlich bedeutet, wann das geschieht und warum. Und können wir Kindern helfen, weniger zu vergessen? Wenn ja, wie?

So funktioniert unser Gedächtnis

Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie und die gibt es glücklicherweise über die Vorgänge in unserem Gehirn, die zu dem Phänomen führen, das wir „Gedächtnis“ nennen. Wir können drei Teile unterscheiden: Das sensorische Gedächtnis, in dem meist nur für Bruchteile von Sekunden alles gespeichert wird, was Auge und Ohr aufnehmen, bis es mit dem mentalen Modell unserer Umwelt, das im Langzeitgedächtnis gespeichert ist, abgeglichen wird und bis wir so erkannt haben, was wir eigentlich sehen und hören. Dazwischen liegt das Arbeitsgedächtnis – diese Bezeichnung sagt besser als die ältere Bezeichnung „Kurzzeitgedächtnis“, wofür wir es brauchen.

Auf welchen Wegen gelangen nun Inhalte aus dem sensorischen Gedächtnis ins Langzeitgedächtnis, wo sie dauerhaft gespeichert werden können? Nicht nur auf einem! Schauen wir uns das mal etwas genauer an: Wenn Sie an frühere Erlebnisse in ihrem Leben denken (also Inhalte aus dem Langzeitgedächtnis abrufen), dann werden Ihnen Situationen einfallen, die Sie nicht vergessen können, obwohl Sie sich nicht vorgenommen haben, sie sich zu merken. Wo waren Sie, als die Flugzeuge ins Welthandelszentrum in New York rasten? Falls Sie diesen Tag bewusst erlebt haben, wissen Sie das noch. Das war ein einzigartiges, emotional hoch bedeutsames Ereignis, das unwillkürlich sofort im Langzeitgedächtnis gespeichert wurde. Und dies gilt auch für vergleichbar emotional Bedeutsames. Leider gehört Schulunterricht eher nicht dazu – außer wenn der Chemielehrer Knallgas darstellt, es in eine Schüssel voll mit Spülmittel versetztem Wasser leitet und ohne Vorwarnung an den Schaum ein Streichholz hält. So was ist unvergesslich…

Im Arbeitsgedächtnis wird gearbeitet…

Wichtige, aber eben nicht so einzigartige Inhalte kommen erst mal ins Arbeitsgedächtnis. Viel passt da allerdings nicht rein und lange bleiben die Inhalte auch nicht drin. Fünf bis neun Gedächtniseinheiten (eine Einheit ist z.B. eine einzelne Zahl, ein einzelnes Wort) sind das beim Erwachsenen, bei Kindern meist weniger und bei Menschen mit ADS/ADHS sieht es oft noch schlechter aus… Und sie werden dort nur für 18 bis ca. 90 Sekunden gespeichert. In dieser kurzen Zeit muss eine Verknüpfung zu Inhalten hergestellt werden, die bereits im Langzeitgedächtnis gespeichert sind. Das heißt, für beide Themen  muss gleichzeitig Platz in diesem engen Raum vorhanden sein, damit sich Informationen (die neue und die aus dem Speicher abgerufene) verbinden und dann als Paket ins Langzeitgedächtnis zurückgeschickt werden können. Klappt das nicht, verschwindet die neue Information auf Nimmerwiedersehen. Im Alltag erleben Sie das, wenn Sie sich z.B. eine unbekannte Emailadresse merken und, bevor Sie sie in Ihr Smartphone eintippen können, wegen einer anderen Angelegenheit angesprochen werden – danach ist die korrekte Adresse aus Ihrem Arbeitsgedächtnis verschwunden. Vielleicht wissen Sie noch ein Detail davon, aber sicher sind Sie sich nicht – und können das auch nicht sein, denn das, was fehlt, ist unwiderruflich weg.

Damit haben wir eine erste Form von Vergessen vor uns: Vergessen von Inhalten im Arbeitsgedächtnis bedeutet, dass diese gar nicht erst im Langzeitgedächtnis gespeichert wurden. Ein Beispiel: Wenn wir einem Kind mehrere Aufträge geben, ist die Kapazität seines Arbeitsgedächtnisses schnell überschritten und was darin keinen Platz mehr hat, fliegt raus. „Du musst mal wieder aufräumen (1) und Staub wischen (2), hier kann ich doch ‚Sau‘ draufschreiben (3), und deine dreckigen Klamotten (4) haben auch nichts auf dem Fußboden zu suchen (5), wie oft habe ich dir das schon gesagt (6), ich rede mir noch den Mund fusselig (7) und Hausaufgaben hast du natürlich auch noch nicht gemacht (8), denkst du, dass du mal mit Computerspielen dein Geld verdienen kannst (9)…“ – das soll mal als konstruiertes schlechtes Beispiel genügen.

Für Erwachsene ist das eine logische Einheit: Du sollst Ordnung halten und zuerst Deine Hausaufgaben machen. Die müsste doch das Kind gut behalten und verarbeiten können. Für das Kind sind das aber neun einzelne Einheiten, auf die es reagieren will. Für jüngere Kinder und vor allem für Kinder mit ADS/ADHS überschreitet das bei weitem die Kapazität ihres Arbeitsgedächtnisses und wie oben gesagt: Was nach kurzer Zeit nicht mit Inhalten im Langzeitgedächtnis verknüpft ist, ist unwiederbringlich vergessen. Aber wir glauben, dass das Kind mit Absicht und aus Faulheit auf Durchzug schaltet…

Kann man was dagegen tun? Die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses erweitern, so dass mehr Gedächtniseinheiten hineinpassen oder die Speicherdauer erhöhen? Nein, das geht nicht, weil die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses vermutlich angeboren ist, aber wir können es besser nutzen. Wenn wir Inhalte zusammenfassen (z.B. aus den Ziffern 4 und 2 die Zahl 42 machen), haben wir statt zwei nur noch eine Einheit vor uns und so passt tatsächlich mehr Information ins Arbeitsgedächtnis. Und wenn wir Inhalte wiederholt vor uns hinmurmeln, speichern wir sie immer wieder neu ein und so sind sie dort längere Zeit verfügbar. Wenn wir ganz clever sind, machen wir uns Notizen: Alles, was wir uns aufgeschrieben haben, müssen wir nicht mehr im Arbeitsgedächtnis behalten und haben so dort mehr Platz für logische Operationen.

Für Kinder lässt sich daraus ein wichtiger Ratschlag ableiten:

Geben Sie Kindern mit ADS/ADHS immer nur einen Auftrag, Wenn der erledigt ist, kann der nächste kommen. Auch bei Kindern ohne dieses Handicap sind Sie so auf der sicheren Seite. Alternative: Schreiben Sie mit dem Kind eine Aufgabenliste, lassen Sie erledigte Aufträge abhaken – und fragen Sie ab und zu nach, ob die Liste noch da ist…

Bernd Friedrich, Diplom-Psychologe

 

In unserem nächsten Knigge setzen wir fort mit „Unsere Superdatenbank: das Langzeitgedächtnis“

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