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„Und mach Dir einen Knoten ins Taschentuch!“

Teil 2: Unsere Superdatenbank – das Langzeitgedächtnis

Nachdem es im letzten Kinderarche-Knigge um das Arbeitsgedächtnis ging, schauen wir uns nun das Langzeitgedächtnis etwas genauer an. Hier können riesige Mengen von Gedächtniseinheiten – geschätzt 1 000 000 000 000 000, gezählt hat das noch niemand – dauerhaft gespeichert werden und zwar so lange, wie die beteiligten Nervenzellen gesund sind, also, wenn wir Glück haben, lebenslang... Die gute Nachricht dabei ist, dass Kinder mit ADS/ADHS in der Regel ein genauso umfangreiches und gut funktionierendes Langzeitgedächtnis haben wie wir alle. Es ist von dieser Störung nicht betroffen und das ist äußerst hilfreich, wie wir noch sehen werden.

Das Langzeitgedächtnis hat drei Abteilungen: Eine speichert Bedeutungen, z.B. Gedichte („Wer reitet so spät durch Nacht und Wind…“), Lehrsätze („A² + B² = C²“) oder Behauptungen („Du bist ja blöd! – Ich weiß, dass du das vor drei Jahren zu mir gesagt hast! Wortwörtlich!“). Eine andere nimmt Ereignisse auf, z.B. „Bei meinem Schulanfang hatte ich eine so große Zuckertüte, dass mir mein Onkel tragen helfen musste…“. Eine dritte speichert schließlich automatisierte Bewegungsabläufe, z.B. unsere Handschrift, wie man im Auto den ersten Gang einlegt und dann das Gefährt in Gang setzt oder auch, wie man Fahrrad fährt. „Fahrrad fahren verlernt man nicht!“ sagt der Volksmund und er hat Recht damit – was wir in diesem Bereich eingeübt haben, vergessen wir nicht.

Anders sieht es bei den Bedeutungen aus: Wir hatten eifrig für eine Prüfung gelernt, wussten auch alles und beim Schreiben der Klausur ist plötzlich ein wichtiger Inhalt weg. Vergessen! Als wir danach die Treppe des Schulhauses hinuntergingen, fiel uns der Sachverhalt plötzlich wieder ein… Das heißt, er war auch während der Prüfung in unserem Gehirn gespeichert, wir haben ihn nur nicht gefunden. Das ist ein wichtiger Unterschied zum Vergessen von Inhalten aus dem Arbeitsgedächtnis – nur die sind tatsächlich weg.

Erinnerung wandelt sich nach und nach

Allerdings sind die Inhalte im Langzeitgedächtnis nicht unveränderlich. Wann immer wir sie abrufen, um die Geschichte noch mal jemandem zu erzählen oder wenn wir einen Ort erneut aufsuchen, an dem wir ein schönes oder schreckliches Erlebnis hatten, kombinieren wir den alten Inhalt mit neuen Erfahrungen: Vielleicht erzählt uns Tante Frieda, dass sie die Zuckertüte auch ein Stück getragen hat, vielleicht besuchen wir nach Jahren den Garten der Oma und auf einmal erscheint er uns ganz klein … Danach wird aber nicht wieder das unveränderte Original gespeichert, sondern die aktuelle veränderte bzw. ergänzte Fassung. Wir sind nun sicher, dass auch Tante Frieda die Zuckertüte getragen hat und der Garten ist nun tatsächlich so klein, wie er tatsächlich ist und nicht mehr so groß wie in unserer Kindheit. So wandelt sich nach und nach unsere Erinnerung und vermutlich verklärt sich so auch manches in unserer Vergangenheit…

Auf einen weiteren Prozess, der Inhalte im Langzeitgedächtnis verändert, hat Siegmund Freud hingewiesen: Dinge, die wir leider getan haben und die uns extrem belasten, weil wir das Ganze mit unserem Selbstbild nicht vereinbaren können, verdrängen wir oft. Auch dann können wir uns daran nicht mehr aktiv erinnern, sie beeinflussen aber unterbewusst weiterhin unser Verhalten.

Wie kommen nun Informationen vom Arbeitsgedächtnis eigentlich ins Langzeitgedächtnis hinein?

Da gibt es zwei Möglichkeiten:

  • Wenn durch die Sinnesorgane aufgenommene Inhalte (ein Lehrervortrag oder eine Infografik) im Arbeitsgedächtnis mit Inhalten zusammentreffen, die zu ihnen eine sinnvolle Beziehung haben, z.B. wenn sie etwas ergänzen, was wir schon wissen, dann verstehen wir das Ganze und seine Bestandteile verknüpfen sich leicht miteinander. Deshalb werden sie dann im Langzeitgedächtnis leicht auffindbar eingeordnet.
  • Verstehen wir nicht so recht, worum es geht, dann können wir den Inhalt auch mechanisch auswendig lernen, also immer wieder wiederholen, bis er es ins Langzeitgedächtnis geschafft hat. Weil wir ihn dort aber nicht sinnvoll einordnen können, ist das Risiko groß, das uns sein Standort verloren geht und wir ihn deshalb nicht mehr wiederfinden. Wahrscheinlich haben wir alle in unserer Schulzeit mal etwas, was wir nicht verstanden haben, stur auswendig gelernt, konnten das in der Arbeit auch hinschreiben, hatten aber schon wenige Wochen danach nicht mehr die geringste Ahnung, worum es eigentlich ging…

Und was hat das Ganze nun mit dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit und ohne Hyperaktivität zu tun? Das lässt sich jetzt erklären: Wenn wir etwas mechanisch auswendig lernen wollen, ist das bei einer geringen Kapazität des Arbeitsgedächtnisses schwieriger als bei einer größeren. Wir wissen, dass eine kleine Ablenkung reicht und der Inhalt ist auf Nimmerwiedersehen fort. Und Kinder mit ADS/ADHS lassen sich prima ablenken…

Wenn wir uns etwas Sinnvolles einprägen, ist das leichter, das lässt sich auch in einem kleinen Arbeitsgedächtnis verknüpfen – wenn nicht noch viel dazu kommt! Ein Vergleich soll das illustrieren: Wenn Sie einen Trichter haben und Sie sollen Kugeln, die von ihrem Durchmesse her ohne Probleme hindurchpassen, auf diese Weise in eine Schüssel befördern, gelingt das leicht – solange Sie eine Kugel nach der anderen in den Trichter geben. Schütten Sie aber einen ganzen Beutel mit Kugeln auf einmal in den Trichter, werden sie sich miteinander verkeilen und kaum etwas davon wird in der Schüssel ankommen.

Wichtiges merken und nicht vergessen…

Aus all diesen Fakten lässt sich nun eine Reihe von Schlussfolgerungen für den pädagogischen Alltag ableiten:

1.      Geben Sie Kindern mit ADS/ADHS immer nur einen Auftrag, Wenn der erledigt ist, kann der nächste kommen. Auch bei Kindern ohne dieses Handicap sind Sie so auf der sicheren Seite. Alternative: Schreiben Sie mit dem Kind eine Aufgabenliste, lassen Sie erledigte Aufträge abhaken – und fragen Sie ab und zu nach, ob die Liste noch da ist…

2.      Da ein Kind mit ADS/ADHS nur einen Gedächtnisinhalt (oder bestenfalls zwei bis drei) auf einmal verarbeiten kann, braucht es für das Aufnehmen und Analysieren einer bestimmten Informationsmenge mehr Zeit als andere Kinder. Konsequenz: Sprechen Sie langsam mit ihm und geben Sie eine neue Information erst dann, wenn die vorherige verstanden wurde. Lassen Sie ihm Zeit bei der Lösung eines Problems, so dass es – sinnbildlich – Kugel für Kugel einzeln in den Trichter werfen kann. Ein Problem dabei ist freilich, dass sich Kinder mit ADS/ADHS diese Zeit oft nicht nehmen, weil sie bald fertigwerden wollen. Es ist eine schwierige pädagogische Aufgabe, ihnen die Erkenntnis zu vermitteln, dass sie langsam arbeiten müssen, wenn sie schnell sein wollen…

3.      Die wichtigste Ressource von Kindern mit ADS/ADHS für die Bewältigung von Aufgaben aller Art ist ihr Langzeitgedächtnis – weil das meist gut funktioniert. Was dort gespeichert ist, steht für das Lösen von Aufgaben unmittelbar zur Verfügung: Wenn ein Kind das Einmaleins sicher auswendig beherrscht, muss es sein Arbeitsgedächtnis nicht mit der Aufgabe „Wieviel ist 7 mal 8?“ blockieren, sondern holt die Lösung „56“ einfach aus dem Langzeitgedächtnis heraus, wo sie griffbereit vorliegt. Motivieren Sie deshalb Ihr Kind, möglichst viele Informationen dauerhaft zu speichern:

  • Ein Kind, das gern und viel liest, merkt sich dabei unwillkürlich die Wortbilder der deutschen Schriftsprache. Auch ohne die Kenntnis von Rechtschreibregeln wird es die meisten Worte richtig schreiben, weil deren korrekte Schreibweise im Gedächtnis bereits vorliegt.
  • Unterstützen Sie alle Bemühungen Ihres Kindes, sich interne Datenbanken anzulegen und seien es Kenntnisse über Typen und Produktionszeiten amerikanischer Straßenkreuzer. Was es dabei lernt, kann es auch für das Behalten von Geschichtszahlen nutzen…
  • Eine gute Allgemeinbildung schafft vielfältige Möglichkeiten, neu aufgenommene Informationen andocken zu lassen und so dauerhaft zu speichern. Schaffen Sie Gelegenheiten dafür, indem Sie mit ihm populärwissenschaftliche Sendungen ansehen, wecken Sie seinen Wunsch, Bibliotheken zu nutzen und diskutieren Sie mit ihm altersgerecht über Probleme unserer Zeit! All das macht Informationen zugänglich, gibt Gelegenheit, sie in neuen Zusammenhängen anzuwenden und fördert mit den dabei erreichten Erfolgen das Selbstvertrauen Ihres Kindes. Und das kann es gebrauchen…

4.      Trainieren Sie mit Ihrem Kind Alltagsroutinen, z.B. die folgenden:

  • Dinge, die man tun will oder muss, kann man nicht vergessen, wenn man sie sofort erledigt.
  • Ein Gegenstand, den man sofort auf seinen festen Platz zurückgelegt, wenn man ihn nicht mehr braucht, wird leicht wiedergefunden, kann also nicht verlorengehen.
  • Ein Terminkalender (analog oder digital) speichert Termine zuverlässig. Man muss nur noch daran denken, auch hineinzusehen – oder man lässt sich vom Smartphone erinnern…

All diese Übungen sind komplizierte und anstrengende Vorgänge: Kalkulieren Sie Rückschläge ein und haben Sie Geduld…

Und hilft nun der Knoten im Taschentuch?

Selbstverständlich.  Stellen Sie sich vor, Sie haben sich etwas vorgenommen und wollen nun deshalb in ein anderes Zimmer Ihrer Wohnung gehen. Auf dem Weg dahin hat Ihr Kind ein ganz dringendes Problem, dem Sie sich erst mal zuwenden müssen und das Ihr Arbeitsgedächtnis vollständig beansprucht. Was dabei mit Ihrem Plan passiert, wissen Sie schon – er fällt in den Ozean des Vergessens, unwiederbringlich. Aber sie haben noch eine Chance: Sie gehen dorthin zurück, wo Sie hergekommen sind und plötzlich fällt es Ihnen wieder ein – wie durch Zauberhand… Nein, gezaubert haben Sie nicht, aber Sie haben damit eine Art Reset-Knopf gedrückt, unbewusst hat Ihr Gehirn vorher Ihr Vorhaben mit dem Ort verknüpft, an dem es Ihnen einfiel und so funktioniert das Ereignis, die Situation, der Ort als eine Art Rettungsring, mit dem sich diese Information noch eine kurze Zeit über Wasser halten kann… Und eine solche Assoziation kann auch entstehen, wenn man sich einen Knoten ins Taschentuch macht, er kann die Erinnerung an den Ort wieder hervorrufen, an dem man sich etwas vorgenommen hat – nicht so stark, als ob man leibhaftig dorthin ginge, aber manchmal eben doch noch so gut, dass Sie wieder wissen, was Sie wollten. Also schauen Sie noch mal in den hinteren Ecken ihrer Schlafzimmerkommode nach, vielleicht finden Sie dort noch ein altes Stofftaschentuch. Und vergessen Sie nicht, es auch einzustecken…

Bernd Friedrich, Diplom-Psychologe

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