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Ilka Meffert

Sexuelle Übergriffe unter Kindern

Sexuelle Übergriffe unter Kindern kommen häufiger vor, als man glaubt. Was auf den ersten Blick vielleicht wie ein harmloses Doktorspiel aussieht, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als sexuelle Gewalt. Denn einer von beiden will genau das nicht, was der andere mit ihm tut. Im folgenden Text gehen wir den Ursachen von sexuellen Übergriffen unter Kindern nach, benennen Anzeichen, die darauf hindeuten, dass Kinder übergriffig sind, und zeigen auf, wo Eltern übergriffiger Kinder Hilfe finden.

Tobias war 12, als er wir ihn kennenlernten und erfuhren, dass er schon mehrmals sexuell übergriffig an dem siebenjährigen Chris geworden war. Angefangen hatte es mit Schmusen, Kuscheln und Streicheln, wenn der Kleine bei seinem großen Cousin übernachten durfte, worauf er ganz stolz war. Wer von seinen gleichaltrigen Kumpels konnte schon einen 12-jährigen Freund vorweisen?! Und was der Tobias ihm für herrlichen Blödsinn zeigte…! Was der für lustige Kunststücke mit seinem Pimmel vorführen konnte! Coole Geheimnisse hatten die beiden! – Aber irgendwann wurde es komisch und machte keinen Spaß mehr. Chris wollte das nicht mehr mitmachen, schließlich tat es auch weh am Po, und Tobias wurde manchmal richtig grob, wenn er nicht stillhielt. Was sollte er nur tun, konnte er doch seinen besten Freund nicht verraten!? Dann blieb er lieber zu Hause und stellte sich krank.

Chris‘ Eltern wurden stutzig, als ihr sonst so aufgeweckter Sohn sich immer mehr zurückzog, völlig gegen seine Natur zum echten Stubenhocker wurde, bei kleinsten Anlässen weinte, auf dem Stuhl hin- und herrutschte, nachts wieder ins Bett machte, was seit Jahren kein Thema mehr gewesen war. Selbst bei seinem geliebten großen Cousin Tobias wollte er allein nicht mehr bleiben. Irgendetwas stimmte nicht! Die Eltern beobachteten ihren Sohn weiter und fragten ihn immer wieder, was ihn bedrücke, wovor er sich fürchte und irgendwann gestand Chris dann, Tobias sei nicht mehr sein Freund, jedenfalls nicht, wenn er mit ihm so Sachen macht, die ihm wehtun. Und behutsam nachfragend erfuhren die Eltern die ganze Wahrheit…

Danach gab es ein Gespräch unter den Erwachsenen, den Eltern beider Jungen. Schließlich wurde Tobias mit den Vorwürfen konfrontiert und gestand seine sexuellen Übergriffe auf Chris.

Das Jugendamt wurde eingeschaltet und um Unterstützung gebeten: Was sollten die Eltern jetzt tun? Wo bekämen sie Hilfe für die Jungen? Wo konnten sie als betroffene Eltern sich beraten lassen? Die zuständige Mitarbeiterin im Jugendamt wollte die Eltern beruhigen und bagatellisierte die Vorfälle: „Sexuelle Übergriffe? Das sind doch noch Kinder! – Wir haben mit 12 doch auch Doktorspiele gemacht!“ Natürlich müsse damit auch mal wieder Schluss sein; das sollte man den Kindern deutlich sagen! Grenzen setzen!

Ist das tatsächlich kein Grund zur Sorge? Haben wir das tatsächlich auch getan? Doktorspiele mit 12? – Sicher nicht! Und wenn doch, dann waren das jedenfalls keine Doktorspiele, auch wenn manche von uns ihre ersten sexuellen Erfahrungen mit einer Freundin / einem Freund – rückblickend und nicht ganz ernst gemeint – so nennen mögen.

Doktorspiele finden gleichberechtigt unter etwa gleichaltrigen Kindern im Kindergartenalter statt und verlieren etwa mit Beginn des Schuleintrittsalters wieder ihren Reiz.

(Wir haben uns hier im Erziehungsknigge bereits ausführlicher damit befasst – s. Artikel: Doktorspiele und ihre Grenzen.)

Bei sexuellen Übergriffen dagegen werden die persönlichen Grenzen anderer, unterlegener Personen verletzt. Kinder, die Opfer sexueller Übergriffe durch andere Kinder werden, sind entweder deutlich jünger, sind körperlich, geistig oder in ihrer Gruppenposition dem übergriffigen Kind unterlegen oder aufgrund ihrer Entwicklung einfach noch nicht in der Lage, sexuellen Handlungen aufgeklärt und wissentlich zuzustimmen. Nicht selten werden die Opfer manipuliert – mit Geschenken, Versprechungen oder Drohungen – oder sie befürchten einfach, einen neu gewonnenen Freund zu verlieren, wenn sie nicht mehr „mitspielen“.

Was aber sind die Ursachen dafür, dass sogar Kinder mitunter sexuell übergriffig werden? Manche Erwachsene glauben, dass sexuell übergriffiges Verhalten die Folge eines zufällig beobachteten Geschlechtsverkehrs ist. Bleiben Sie entspannt: viele Eltern sind schon mal von ihren Kindern im Schlafzimmer „in flagranti erwischt“ und vielleicht auch dazu befragt worden. Sexuell übergriffig werden Kinder deshalb noch lange nicht.

Sexuelle Übergriffe, die durch Kinder verübt werden, können ein Hinweis auf eigene sexuelle Gewalterfahrungen durch andere Kinder, Jugendliche oder Erwachsene, innerhalb oder außerhalb der Familie, sein. (Da gab es z.B. einen Großvater, der sich gern Pornofilme – auch solche mit kinderpornografischen Inhalten – angesehen und dabei masturbiert hat. Dass seine kleinen Enkeltochter oft mit anwesend war, störte ihn nicht. Er meinte wohl, sie verstünde doch nichts von alledem und deshalb könne es ihr nicht schaden. Als dieses Mädchen Jahre später einen kleinen Jungen unter massiver Gewaltanwendung niederzwang, um an ihm sexuelle Handlungen vorzunehmen und auch von immer wiederkehrenden sexuellen Gewaltfantasien und –träumen berichtete, kam die Vorgeschichte mit dem Großvater ans Tageslicht.)

Es gibt aber auch eine Reihe anderer möglicher Ursachen dafür, dass Kinder sexuell übergriffig werden, z.B. körperliche Gewalterfahrungen, emotionale Vernachlässigung, Mobbing-Erfahrungen, aber auch, wenn Kinder Zeugen von (häuslicher) Gewalt werden.

Aufmerksam sollten Sie werden, wenn Kinder in ihrer Sprache, im Spiel, in Gebärden und im Kontakt zu anderen Menschen auffallend und deutlich mehr als andere Kinder sexualisiert sind, wenn sie andere (uninteressierte) Kinder immer wieder zu „Doktorspielen“ überreden, verführen, bestechen oder gar zwingen, Geheimhaltungsgebote über „Doktorspiele“ auferlegen, wenn sie wiederholt andere Personen mit sexualisierten Schimpfwörtern demütigen, andere Kinder wiederholt im Genitalbereich berühren oder sich selbst berühren lassen, sich selbst oder andere im Genitalbereich verletzen, wenn sie wiederholt in ihrem Spiel Erwachsenensexualität thematisieren oder andere Kinder zu Praktiken der Erwachsenensexualität auffordern.

Auf jeden Fall sind sexuell übergriffige Kinder ebenso entwicklungsgefährdet wie Kinder, die Opfer sexueller Gewalt werden und brauchen genau wie diese eine geeignete Hilfe.

Es ist für betroffene Eltern enorm wichtig, frühzeitig mit Fachberatungsstellen oder dem Jugendamt zusammenzuarbeiten, um geeignete Hilfen zu finden. Keineswegs reicht es in Fällen sexueller Übergriffe aus, die Mädchen und Jungen zur Einhaltung der Regeln für Doktorspiele zu ermahnen oder einfach abzuwarten, dass sich das „auswächst“.

Uta Troike, Psychologin im Kinderarche Sachsen e.V.

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