Ziehen Jugendliche sich zurück, reden kaum noch, schließen sich im Bad oder in ihrem Zimmer ein, so liegt die Vermutung nahe, dass sie sich ritzen.
„Ich glaube, mein Kind hat sich geritzt!“
Manchmal haben Eltern schon lang ein komisches Gefühl. Ihr jugendliches Kind zieht sich zurück, redet kaum noch, und sie bemerken, dass immer länger die Bad- oder Zimmertür abgeschlossen ist. Auch bei hohen Temperaturen trägt der Jugendliche langärmlig und vermeidet beispielsweise, ins Schwimmbad zu gehen. Kinder und Jugendliche versuchen sehr lang alles, um zu verbergen, dass sie sich ritzen.
Selbstverletzungen können Schnittverletzungen an Armen oder Beinen sein, die sie sich selbst durch Messer, Rasierklingen oder Scherben zufügen. Aber auch Verbrennungen oder Schlagen gegen harte Gegenstände werden selbstverletzendem Verhalten zugeordnet. Erlangen die Eltern Gewissheit, ist dies meist ein Schock. Sie reagieren mit Ohnmacht, Hilflosigkeit, Angst und Besorgnis. Ungünstig wäre es jetzt, dem Kind zornig gegenüberzutreten, Erklärungen zu verlangen oder zu drohen, da dies einen weiteren Rückzug des Kindes nach sich ziehen kann. Bevor Eltern ihr Kind darauf ansprechen, wird empfohlen, sich zu informieren oder beraten zu lassen.
Generell versteht man unter selbstverletzendem Verhalten die bewusste, freiwillige und direkte Zerstörung von Körpergewebe ohne suizidale Absicht. Mädchen sind häufiger betroffen als Jungs, Bevölkerungsstudien ergaben, dass Erkrankungsraten bei drei bis 15 Prozent liegen und ein Zuwachs zu verzeichnen ist. Einmalige Verletzungen treten bei ca. 25 Prozent auf, 4 Prozent der Jugendlichen ritzen sich häufiger oder auch sehr lang andauernd. Es wird von einem „Ansteckungs-Effekt“ gesprochen, da sich Selbstverletzende Handlungen über Schulklassen oder Stationen hinweg ausbreiten.
Selbstverletzendes Verhalten ist keine eigenständige psychische Erkrankung, sondern ein Symptom, welches mit verschiedenen komplexen psychischen Störungen (instabile Persönlichkeitsstörung, Essstörungen oder Störungen des Sozialverhaltens) einhergehen kann.
Welche Ursachen hat selbstverletzendes Handeln?
Ursachen solchen Verhaltens sind einerseits im Kind selbst verortet, aber auch im familiären Umgang und dem Umfeld (Schule, Freunde) zu finden. Mangelndes Selbstwertgefühl, die Unfähigkeit, Gefühle auszudrücken, schwach ausgeprägte emotionale Selbstregulierungskräfte, geringe Fertigkeiten zur Kommunikation und Schwierigkeiten im sozialen Kontakt bspw. Freundschaften zu schließen sind dabei zu nennen. Häufige familiäre Faktoren sind unrealistische Erwartungen von Eltern, Leistungsdruck, wenig emotionaler Umgang bis hin zu Misshandlungen und Missbrauch.
Ritzt sich ein Jugendlicher, kommt dadurch oft seine massive Belastung zum Ausdruck. Obwohl selbstverletzendes Verhalten an sich keine Suizidabsicht beinhaltet, wird es als ein Vorhersage-Faktor für Suizid genannt, da die Hemmschwelle sinkt, sich körperlich Schaden zuzufügen. Insofern gehen Selbstverletzungen mit einem erhöhten Suizidrisiko einher.
Neben diesen Ursachen sind die häufigsten Auslösefaktoren: emotionale Anspannungssituationen, Probleme in der Beziehung zu Gleichaltrigen (Ablehnung), Darstellung selbstschädigender Verhaltensweisen in den Medien (Musikvideos, Songtexte), selbstschädigendes Verhalten anderer Jugendlicher, ausgeprägte traumatische Erlebnisse, wie z.B. Verlust eines Elternteils, Mobbing oder Belastung durch Schule / Ausbildung.
Da das Kind diesen emotionalen Druck nicht durch angemessene Verhaltensweisen regulieren und kanalisieren kann, verschafft der körperliche Schmerz durch das Ritzen eine Erleichterung. Es lenkt von unangenehmen Gedanken und Gefühlszuständen ab, signalisiert, die Kontrolle über den eigenen Körper zu haben und bringt Zuwendung und Aufmerksamkeit. Es beginnt ein Teufelskreis zwischen kurzweiliger Entspannung und erhöhter Anspannung, der die Jugendlichen bereits bei weniger belastenden Situationen aufs Ritzen zurückgreifen lässt.
Was können Eltern in dieser Situation tun?
Wichtig ist es, eine geeignete Kommunikationsebene mit dem Kind zu finden. Überschießender Aktionismus treibt die Kinder noch mehr in Isolation, so dass ruhige, aufmerksame, aber nicht wertende Gespräche stattfinden sollten. Wenn nötig muss eine Wundversorgung erfolgen, auch über den Haus- oder Notarzt. „Verarzten“ die Eltern die Schnitte, sollten sie dies emotionslos und nicht traumatisierend tun. Auch wenn Kinder dadurch Aufmerksamkeit erhalten, sollte der Fokus darauf liegen, den Kindern positive Zuwendung für „Sich-Nicht-Verletzen“ zu schenken. Es sollte ihnen stets das Gefühl vermittelt werden, dass sie als Mensch Wertschätzung erhalten und dennoch das Vertrauen der Eltern genießen.
Sollten die Selbstverletzungen regelmäßig bestehen bleiben, ist es sinnvoll, den Jugendlichen über eine ausführliche Diagnostik eine geeignete Psychotherapie zukommen zu lassen. Hierbei ist eine Anbindung an eine Beratungsstelle oder eine Vorstellung bei einem Facharzt für Kinder und Jugendpsychiatrie sinnvoll (niedergelassen oder Klinik). Dort erhalten die Eltern eine ausführliche Aufklärung und Anleitung im Umgang mit ihrem Kind. Für den Jugendlichen steht die Möglichkeit, eine Veränderungsmotivation zu erarbeiten und schrittweise geeigneter Verhaltensweisen im Umgang mit emotionalen Belastungen zu erlernen.
Neben dem Skilltraining (Training zum Erwerb von speziellen Fertigkeiten) kann längerfristig an den Ursachen und Auslösebedingungen gearbeitet werden. Dabei stehen verschiedene psychotherapeutische Verfahren zur Auswahl. Möchte man angemessenere Verhaltensweisen (Skills) und eine gute Emotionsregulation erlernen, kann je nach Anspannungsgrad auf verschiedene Alternativen zugegriffen werden. Dies unterscheiden sich u.a. nach motorischer oder sensorischer Ablenkung. So kann joggen gehen, gegen weiche Kissen boxen oder andere Sportübungen ein geeignetes Ventil sein, mit unangenehmen Anspannungen umzugehen. Sensorische (Spüren, Schmecken, Riechen) Ablenkung erhalten die Jugendlichen z.B. durch kaltes Wasser, Eiswürfel, Murmeln im Schuh, Schnipsgummi am Handgelenk, Igelballmassagen, Therapieknete, Chili-Gummibärchen essen, Zitronensaft oder Riechstäbchen wie Ammoniak-Pastillen.
Stehen familiäre Konflikte als Ursache im Vordergrund, können auch Erziehungsbeistände oder sozialpädagogische Familienhilfen vom Jugendamt Unterstützung leisten. Dabei wird u.a. darauf Wert gelegt, die familiären Interaktionsmuster, den emotionalen Umgang, die Kommunikation und Erziehungskompetenzen der Eltern zu verbessern.
Astrid Butze, Psychologin im Kinderarche Sachsen e.V.