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Eine Wunde im Selbst: Trauma und die Folgen

Der siebenjährige Joel nässt und kotet fast täglich ein. Es passiert einfach so, er kann es nicht kontrollieren. „Iiiihh, Joel, du stinkst!“, rufen die anderen Kinder und lachen ihn aus. Dann wird Joel wütend: er schreit die anderen Kinder an, streitet es ab, in die Hosen gemacht zu haben, und sucht nach Ausreden. Wenn die Erzieherin ihm sagt, er soll sich umziehen und duschen gehen, schreit er sie an, beißt sich auf den Zeigefinger und stampft mit den Füßen auf dem Boden. Geht die Erzieherin auf Joel zu, um ihn in sein Zimmer zu bringen, zuckt er ängstlich zusammen und beginnt zu weinen.

Joel lebt seit acht Wochen zusammen mit seiner zwei Jahre jüngeren Schwester in der Wohngruppe, zuvor lebten sie über sechs Monate in einer Inobhutnahme. Zu den Eltern haben sie unregelmäßigen Kontakt, manchmal ruft die Mama an, der Papa meldet sich schon lange nicht mehr. Aber Oma und Opa kommen jedes Wochenende und holen die Geschwister ab. Bei ihnen ist das Bett und die Hose täglich trocken.

Im Gegensatz zu seiner Schwester hat Joel noch keinen richtigen Anschluss in der Gruppe gefunden. Die anderen Kinder spielen nicht gerne mit Joel, denn er will oft der Bestimmer sein, den Ton angeben und immer Recht haben. Keiner weiß, dass Joel jahrelang körperlich misshandelt wurde. Sein Vater hat ihn oft geschlagen, stundenlang alleine und im Dunkeln in das Kinderzimmer eingesperrt, angekettet an der Heizung. Die Mutter schaute oft weg...

Jedes Kind hat eine Geschichte. Und viele dieser Geschichten sind eine große Last. Was ist aber ein Trauma und wie definiert man es?

„Trauma“ bedeutet aus dem Griechischen übersetzt Wunde und ist eine normale Reaktion eines normalen Menschen auf ein unnormales Ereignis/Erfahrung. Von einem Trauma spricht man, wenn ein Ereignis/eine Erfahrung zu viel, zu schnell und zu plötzlich geschieht, z.B. ein Autounfall, ein Überfall, Gewalterfahrungen, der plötzliche Tod eines Angehörigen, Trennung von Bezugspersonen oder dem gewohnten Lebensumfeld (z.B. durch einen Krankenhausaufenthalt), aber auch emotionale oder körperliche Vernachlässigung über einen längeren Zeitraum.

Traumatisierte Menschen haben häufig Ängste, die mit der erlebten Gewalt in Zusammenhang stehen. Es kann auch zu einem ausgeprägten Vermeidungsverhalten kommen, um nicht mit Erinnerungen oder Ängsten konfrontiert zu werden. Beispielsweise wenn man einen schweren Autounfall erlebt hat und nicht mehr selbständig Auto fährt. Schlafstörungen, Schreckhaftigkeit, Reizbarkeit, Stimmungsschwankungen und verminderte Belastbarkeit sind weitere häufige Symptome.  Es kann zu Depressionen und sozialem Rückzug kommen sowie dem Gefühl, mit der Alltagsbewältigung überfordert zu sein. Auch Suchterkrankungen, Ess-Störungen, Lebensüberdruss und Suizidalität oder selbstverletzendes Verhalten können die Folge sein.

Kinder sind ebenso traumatisierenden Situationen und Erlebnissen ausgesetzt wie erwachsene Menschen. Traumatische Erlebnisse bei Kindern haben oft negative Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes. Jedes Kind reagiert auf eigene Weise. Manche Kinder ziehen sich zurück, wirken deprimiert. Andere werden sehr unruhig, beinahe „hyperaktiv“. Viele Kinder zeigen Verhaltensweisen einer früheren Entwicklungsstufe, sie nässen und koten z.B. wieder ein. Andere tyrannisieren ihre Umgebung – sie wollen alles unter ihre Kontrolle bringen, nachdem sie während des traumatischen Ereignisses einen starken Kontrollverlust erleben mussten.

Das traumatisierte Kind muss mit all seinen Gefühlen akzeptiert werden. Auch das traumatische Spiel sollte nicht unterbrochen werden. Darin bearbeitet das Kind auf seine eigene Art die traumatischen Erlebnisse. Ein Ziel hilfreicher Interventionen besteht darin, dass das Kind sich wieder sicher und geborgen fühlt. In dieser Atmosphäre kann es weinen oder wütend sein. Es soll darin unterstützt werden, die eigenen Gefühlszustände wahrzunehmen und auszudrücken. Geschieht dies nicht, so besteht die Gefahr, dass das Kind Gedanken und Gefühle nicht mehr aufnehmen kann und die emotionalen Zustände und Erinnerungen abspaltet.

Zieht sich das Kind extrem in sich zurück, so können wir vorsichtig versuchen, mit ihm über das Erlebte zu sprechen oder dies in Form eines Bildes auszudrücken. In jedem Fall sollten die Auswirkungen eines traumatischen Erlebnisses bei Kindern nicht unterschätzt werden. Das Hinzuziehen einer Fachperson ist anzuraten. Diese finden Sie unter anderem bei Psychologen oder Beratungsstellen in Ihrer Umgebung, die auf Traumata spezialisiert sind.

Erbanlagen bestimmen unser Wesen und unser Selbstwertgefühl. Erlebte Gefühle, Erfahrungen und auch unsere Erinnerungen formen unsere Persönlichkeit schon in der Kindheit. Dieser Persönlichkeitsanteil wird „Inneres Kind“ genannt und ist das Ergebnis unserer kindlichen Prägungen. Die kindlichen Prägungen sind im Unterbewusstsein festgeschrieben. Sie tun alles dafür, dass negative Erfahrungen/Gefühle nicht noch einmal erlebt werden müssen. Das Innere Kind strebt danach, Wünsche, Sicherheit, Anerkennung erfüllt zu bekommen, die in der Kindheit zu kurz kamen.

Das Innere Kind wird von Erfahrungen in den ersten sechs Lebensjahren geprägt. Die ersten Lebensjahre sind für die Entwicklung der Gehirnstruktur sehr wichtig, Erfahrungen mit wichtigen Bezugspersonen (Eltern, Großeltern, Geschwister) prägen sich tief im Gehirn ein, das (Ur-)Vertrauen und Misstrauen entwickelt sich.

In den verschiedenen psychologischen und therapeutischen Richtungen geht man davon aus, dass jeder Mensch die Erfahrungen, die er als Kind gemacht hat, in sich gespeichert hat. Ein gesundes Inneres Kind ermöglicht es ihm dann, auf Spontanität, Kreativität, unbändige Lebensfreude und andere Emotionen zuzugreifen, die er als Kind erlebt hat. Ist das Innere Kind früher durch negative Erfahrungen verunsichert oder traumatisiert worden, so hat der heranwachsende Mensch die Verbindung zu den Emotionen unterbrochen, um nicht mehr den negativen Emotionen ausgesetzt zu sein. Dadurch entwickelt der Mensch ein instabiles und gestörtes Selbstbild, das ihn extrem anfällig und sensibel für Liebesentzug oder Kritik macht. Das verunsicherte Innere Kind lässt ihn kein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln und erzeugt eine übergroße Abhängigkeit von der Zuneigung anderer. Es entwickeln sich große Ängste davor, ungeliebt zu sein und verlassen zu werden.

In dieser Situation ist es ganz besonders wichtig, diesen Menschen zunächst äußere Stabilität und Sicherheit zu geben, räumlichen Schutz und feste Bezugspersonen, die diese Ängste aushalten und verlässliche Partner sind. Kann sich ein traumatisierter Mensch auf diese äußere Sicherheit verlassen, ist es ihm dann auch möglich, sich behutsam und mit professioneller Begleitung seinem Inneren Kind zuzuwenden und heilsame Erfahrungen zu machen.

Auch hier empfehlen wir dringend, sich einen spezialisierten Fachmann zu suchen, der sich gemeinsam mit dem traumatisierten Menschen auf diese Reise nach innen begibt, um Türen zu einem gelingenden Leben zu öffnen.

Antje Saggau, Wohngruppe Lichtenstein, und Grit Wagner, Sozialpädagogische Familienhilfe »Wegbegleitung« Reichenbach

 

„Hiermit erkläre ich meinen Rücktritt vom Erwachsensein. Ich habe beschlossen, die Bedürfnisse einer Sechsjährigen zu leben. Ich möchte zu McDonald‘s gehen und denken, es handle sich um ein Viersternerestaurant. Ich möchte kleine Stöckchen über eine frische Lehmpfütze segeln lassen und kleine Wellen mit Steinchen machen. Ich möchte denken, dass Smarties besser sind als Geld, weil man sie essen kann. Ich möchte unter einer großen Eiche liegen und an einem heißen Sommertag mit meinen Freunden einen Limonadenverkauf betreiben. Ich möchte zu einer Zeit zurückkehren, als das Leben einfach war. Als alles, was ich kannte, Farben, Rechentafeln und einfache Schlaflieder waren, was mich aber nicht gestört hat, weil ich nicht wusste, was ich nicht wusste, und darüber auch nicht besorgt war. Was ist mit der Zeit geschehen, zu der wir glaubten, das Schlimmste, was uns passieren könnte, wäre, dass uns jemand unser Springseil wegnimmt und uns als Letzten in die Handballmannschaft wählt? Ich möchte wieder einfach leben. Ich möchte nicht, dass meine Tage aus Computerabstürzen, Bergen von Akten und deprimierenden Nachrichten bestehen. Ich möchte an die Kraft eines Lächelns, einer Umarmung, eines netten Wortes glauben, an Wahrheit, Frieden, Träume, und an die Kraft, die davon ausgeht, im Liegen Rauschgoldengel in den frischen Schnee zu formen.

Ich möchte wieder sechs sein.“

(Anonym, aus dem Internet)

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